Nach dem Beitrag "Qualitätsjournalismus - Wikipedia - Online-Medien" vom 13.2.2009 berichten wir hier von einem weiteren, haarsträubenden Fall von schlampiger Recherche und gar Manipuilation.
Gestern, am 23. April 2009, wurde auf der Veranstaltung der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften SAGW "Wissenschaftskommunikation – Chancen und Grenzen" noch über den Anspruch an den Wahrheitsgehalt und die Qualität von Informationen, auch aus journalistischer Feder, diskutiert. U.a. wurde gefordert, dass qualitätsbewusste Journalisten doch ihre Kollegen, die es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen, ganz offen dafür an den Pranger stellen sollen ("Journalisten - mehr Kollegenschelte").
Ein krasser Fall, bei der diese Kollegenschelte mehr als angebracht wäre, macht seit einigen Tagen die Runde im Internet und wird heute in der NZZ aufgearbeitet: "Blitztempo schadet der Moral - Die traurige Medienkarriere einer wissenschaftlichen Studie".
Was ist geschehen? Am 16.4.2009 veröffentlichte die Pressetext Nachrichtenagentur die Meldung "Twitter schadet der Moral seiner Nutzer - Überkommunikation" soll Gehirn überfordern und gleichgültig machen". U.A. ist dort zu lesen:
"Soziale Netzwerke wie Twitter oder Facebook, die auf einem ständigen Kommunikationsfluss basieren, können die moralischen Einstellungen ihrer Nutzer abstumpfen. [...]Damit bezieht sich der Pressetext auf eine Studie der Universität Süd-Kaliformien, allerdings ohne weitere Angaben z.B. zu den Autoren der Studie, dem Titel, etc., zu machen. Lediglich ein Link zur Universitäts-Hompepage wird angegeben. Übernommen haben den Pressetext u.a. focus.de, news.ch, tagesanzeiger.ch, diverse Blogs und Diskussionsforen; am 24.4.2009 bringt google.ch bei der Suche nach dem Titel des Pressetextes ca. 82'000 Treffer!
Den Forschern zufolge besteht die größte Gefahr darin, dass starke Nutzer von Portalen wie Twitter oder Facebook "gegenüber menschlichem Leid gleichgültig" werden könnten."
Am 20.4.2009 veröffentlichte Stefan Niggemeier auf auf bildblog.de den Beitrag "Twitter macht Journalisten dumm". Dort lesen wir u.a.:
"Der britische Arzt, Medienkritiker und "Guardian"- Kolumnist Ben Goldacre hingegen hatte die originelle Idee, die Meldung mittels etwas, das man früher "Recherche" nannte, zu überprüfen. Er besorgte sich die Studie, auf die sich die "Daily Mail" bezieht und stellte fest, dass sie zwar herausfand, dass das menschliche Gehirn länger braucht, um auf emotionalen Schmerz zu reagieren als auf körperlichen Schmerz — von Twitter, Facebook oder irgendwelchen anderen Internet-Angeboten darin aber keine Rede war."Goldcare fragte zur weiteren Absicherung die Autoren der Studie an. Einer der Autoren bestätigte, dass weder Twitter noch Facebook in der Studie erwähnt seien und:
"Die Verbindung zu Twitter und anderen sozialen Netzwerken ergibt, soweit ich es überblicken kann, keinen Sinn." (zitiert bei bildblog.de)Und weiter bei bildblog.de:
"Und wie kommt dann der Online-Auftritt der vermeintlich seriösen Schweizer Zeitung "Tagesanzeiger" zu einem Zitat, in dem Mary Helen Immordino-Yang, eine der Autorinnen der Studie, Facebook und Twitter ausdrücklich erwähnt? Ganz einfach: Der Autor hat die Wörter "Facebook" und "Twitter" und überhaupt den Zusammenhang zu Online-Angeboten offenbar nachträglich in ein wörtliches Zitat der Wissenschaftlerin aus der Pressemitteilung der Universität eingefügt".Die direkte Gegenüberstellung der Orignalpressemeldung und der Meldung im Tagesanzeiger findet man bei bildblog.de.
Die Original Pressemeldung ist hier zu finden: "Nobler Instincts Take Time", eigentlich ganz einfach.
Fazit: Ein spannender Beitrag zur Diskussion um die Qualität von Journalisten traditioneller und Online-Medien!
Bildquelle: flickr.com/Uli H.
1 Kommentar:
Ein bisschen hat die Gruppe des berühmten Antonio Damasio aber schon an Facebook und MySpace gedacht, nur eher mehr ans Fernsehen. So jedenfalls interpretiere ich das Zitat aus der bemerkenswert ausführlichen Pressemeldung aus Kalifornien:
"+But fast-paced digital media tools may direct some heavy users away from traditional avenues for learning about humanity, such as engagement with literature or face-to-face social interactions.
Immordino-Yang did not blame digital media. “It’s not about what tools you have, it’s about how you use those tools,” she said. Castells said he was less concerned about online social spaces, some of which can provide opportunities for reflection, than about “fast-moving television or virtual games.”"
Vielleicht kann ein Facebook-Süchtiger (oder -Süchtige) trotz aller Möglichkeit zur Reflektion tatsächlich verlernen, wie es in der realen menschlichen Community "face to face" zu und her geht.
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