Studierende protestieren wieder, schon ein interessantes Phänomen (FAZ.NET, Spiegel Online, sueddeutsche.de, ZEIT Online, NZZ Online).
Eigentlich kann man als Beobachter den Eindruck gewinnen, Schüler und Studierende sind heute relativ apolitisch, fokussieren vor allem auf ihr Studium und engagieren sich eher selten (hochschul-, gesellschafts-) politisch; zumindest weniger laut und weniger polarisierend als auch schon.
Während meiner eigenen Schulzeit am Gymnasium (in D) gab es harte (schul-) politische Debatten, ja sogar Wahlkämpfe bei Schülersprecherwahlen, Jusos gegen Schüler Union waren die Hauptprotagonisten. Und es gab Schülerzeitungen der diversen Lager, die mehr Mut zur politischen Meinung zeigten als die allermeisten Medien heute. Und es gab Flugblattaktionen, die nicht selten von den Rektoraten verboten wurden wegen .. - ja wegen was eigentlich? Und dies alles oft zum Leidwesen von Lehrern und Eltern.
Aber es hat uns gelehrt die Dinge verstehen zu wollen und zu argumentieren. Sicher, die Argumente waren oft viel zu radikal, auf allen Seiten, aber sich daran zu reiben, zu argumentieren, zu diskutieren, und vor allem zu hinterfragen, das war – für mich persönlich – eine Lehre für‘s Leben. Anfang der 80er nahmen die politischen Auseinandersetzungen und das Interesse daran IMHO rapide ab; am Ende meines Studiums in der zweiten Hälfte der 80er war es eine Minderheit von Studierenden, die an Aktivitäten der Studentenvertretungen teilnahmen oder gar wählen gingen. Und das obwohl Studierendenvertretungen sich um studientische Belange kümmerten und nicht um das Wohlergehen nicaraguanischer Kaffeebauern wie noch Anfang der 80er persönlich erlebt. Und heute? Ein Blick in SchülerVZ oder StudiVZ gibt Aufschluss darüber, was heute die Mehrheit beschäftigt. Deswegen ist es umso erstaunlicher, dass gerade in diesen Tagen Studierende (wieder) protestieren. Aufhänger ist die Bologna-Reform (Bologna-Reform Seite des BBT).
Aber schaut man etwas genauer hin, dann stellt man fest, dass die berechtigten Klagen der Studierenden in den allermeisten Fällen garnichts mit Bologna zu tun haben.
Bologna ist zehn Jahre alt und nicht mehr zurückzudrehen, aber Korrekturen, und das wird auch allenthalben eingestanden, sind sicher notwendig. Die Ziele sind nach wie vor richtig: Studienzeitverkürzung, Transparenz, Mobilität und Vergleichbarkeit. Aber die bei der Einführung fehlende (gesellschafts- und bildungs-) politische Diskussion muss nachgeholt werden.
Und auch die Studiengänge an sich müssen auf den Prüfstand. Nur wenige Hochschulen haben die Studiengänge wirklich neu gestaltet, sondern lediglich das Label Diplom oder Lizenziat mit Master überklebt und aus dem alten Vordiplom oder Fachhochschul-Diplom einen Bachelor gemacht – etwas zugespitzt formuliert. Da verwundert es kaum, dass in der Schweiz 90% der Studierenden an den Universitäten den Master machen, und das obwohl der Bachelor ja berufsqualifizierend und der Master vor allem forschungsorientiert sein soll.
„Wie bereits frühere Untersuchungen gezeigt haben, ist die Übertrittsquote vom UH-Bachelor zum UH-Master sehr hoch (90%) und nur einige wenige Studierende gliedern sich direkt nach dem Bachelor in den Arbeitsmarkt ein.“Und weiter sagt uns das Bologna-Barometer 2009, dass nur gerade 2% der Bachelorabsolventinnen und -absolventen, die mit dem Masterstudium weitermachen, die Hochschule wechseln; vor Bologna waren das nach meiner Einschätzung auch nicht weniger.
(Bologna Barometer 2009, pdf).
Ich selbst habe nach dem guten alten Vordiplom die Uni gewechselt, das war schwierig und aufwändig genug und wirkte studienzeitverlängernd, aber ob das heute in den Bologna-Studiengängen, zumindest die ich kenne, wirklich einfacher ist, wage ich zu bezweifeln.
Damit sind also wesentliche Ziele der Reform bisher nicht erreicht worden. Und es gibt sogar Stimmen die behaupten, die Mobilität sei heute sogar erschwert gegenüber der Zeit vor Bologna.
Erreicht wurde dagegen, dass Studierende heute schneller abschliessen und weniger oft abbrechen, das ist sicher begrüssenswert.
Aber erreicht wurde auch – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – dass Studierende heute vor allem „zielorientiert und organisiert“ sind. So titelt auch die NZZ am Sonntag heute: „Bologna macht die Faulen fleissig“. Aber wenn die Jagd nach ECTS-Punkten damit gemeint ist, dann ist das ein zweifelhafter Erfolg der Reform. ‚Punkte sammeln anstatt studieren‘, das scheint ein eher zweifelhaftes (Zwischen-?) Ergebnis der vor zehn Jahren eigeführten Reform zu sein.
Eine ganz persönliche Anekdote dazu: In einer mündlichen Prüfung an einer deutschen Universität in einem Masterstudiengang unmittelbar vor dem Abschluss – notabene die letzte verbliebende mündliche Prüfung – prüften wir, zwei Fachkollegen, den Studierenden fächerübergreifend. Als der Kollege eine Frage stellte, antwortete der Student sinngemäss:
‚Wieso fragen Sie das noch, das haben wir doch schon im 5. Semester in der Prüfung xyz gemacht, das weiss ich doch jetzt nicht mehr‘.Das scheint mir leider symptomatisch zu sein für die Jagd nach Punkten. Sicher, die Prüfungen nach dem alten Schema alles am Ende des Studiums zu prüfen waren der Hammer – ich selbst hatte fünf schriftliche (je 4 oder 5 Zeitstunden) und fünf mündliche Diplomprüfungen innerhalb weniger Wochen zu absolvieren über den Stoff von 4-5 Semestern -, aber das schlussendlich zu schaffen, auf den Punkt in mehreren Fächern fit zu sein und notabene auch Zusammenhänge zu begreifen, da auswendig lernen kaum eine Option war, das ist auch eine Leistung! Und auch da musste man perfekt organisiert und zielorientiert sein -vielleicht sogar mehr als heute im verschulten Bolognasystem ...!
Wenn also die aktuellen Proteste bzw. der Bildungsstreik der Studierenden zwar wenig mit Bologna im engeren Sinn zu tun haben, aber dennoch die Bildungspolitik und die Hochschulen zum Nachdenken bringen, ist das gut so!
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ergänzt: 16.11.09: Link zum NZZ-Artikel
2 Kommentare:
Ist die Abbrecherquoto dank Bologna wirklich überall gesunken? Ich denke nicht. Einige Studienordnungen gelten seit der Umstellung als unstudierbar. Untersuchungen des Hochschul-Informations-Systems zufolge hat das gerade in der Anfangsphase zu hohen Abbrecherquoten geführt, teilweise sogar höher als zuvor. Und was ist mit den Masterplätzen, die offenbar nur für die Hälfte aller BA-Absolventen vorgesehen sind? Stell Dir vor, Du hättest nur Dein Grundstudium machen und dann nicht weiterstudieren dürfen...
Das Bologna-Barometer 2009 des BFS sagt dazu (gilt somit für die Schweiz):
"Die Bologna-Reform hat sich positiv auf das Erlangen eines ersten UH-Diploms ausgewirkt. Dieser positive Effekt, der für alle Fachbereiche zuzutreffen scheint, kann bei den Wirtschaftswissenschaften genau gemessen werden, wo die Bachelor-Erfolgsquote für Studierende mit einem schweizerischen Zulassungsausweis 82% erreicht. Damit ist er um 9 Prozentpunkte höher als die Erfolgsquote, die bis jetzt für Lizenziate oder Diplome galt."
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