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18. Juli 2017

Faktencheck als erste Bürgerpflicht

Winnie in the dark, fact checking!
Im Zeitalter von sog. Fake News sind Faktenchecks aktuell en vogue, für viele Medien gehören sie inzwischen zum guten Ton, denn zu Tun gibt es viel.

Aber das ist längst nicht genug:
An der re:publica 17 wiess Klaus Kleber darauf hin, dass auch und vor allem die Zivilgesellschaft verstärkt gegen Fake News aufbegehren muss und den Job nicht nur den Journalisten überlassen darf. In der Tat, eine Demokratie braucht aufmerksame, aktive, interessierte, kritische und engagierte Bürger:
"Es gibt in jeder Gesellschaft, gerade in einer demokratisch verfassten, eine Verantwortung des Einzelnen, die der Staat nicht übernehmen kann. Demokratie ist die edelste Staatsform, aber es ist eine Staatsform, die nicht nur Freiheit gewährt und schützt, sondern auch Verantwortung verlangt. Demokratie verlangt Engagement und zwar über Wahlen hinaus. Sie verlangt Meinungsbildung, Beschäftigung mit den Themen, die das Gemeinwesen prägen und verändern." (faz.net 9.7.2017)
Das bedeutet im Zusammenhang mit Medien, dass jeder Einzelne sich aktiv und kritisch mit den Medien, die er oder sie konsumiert, auseinandersetzt. Vorausgesetzt natürlich, der Bürger oder die Bürgerin verfügt über die o.g. Eigenschaften und will sich auch engagieren - und nicht unkritisch in seiner Filterblase verharren, in der man es sich gemütlich einrichtet und - frei nach Pipi Langstrumpf - die Welt so sieht, wie sie einem gefällt, Fakten hin oder her.
"Zwei mal drei macht vier, widewidewitt und drei macht neune, ich mach mir die Welt, widewide wie sie mir gefällt." (Wikipedia

Dazu ein kleines, aktuelles Beispiel:

Heute entdeckte ich zufällig eine Meldung auf Twitter mit dem Titel "Dank Viktor Orbán: Ungarn gehört mit zu den 15 sichersten Ländern der Welt"; gemäss Google Suche wurde der zugehörige Beitrag einer deutschen Website weit über 200 Mal auf weiteren Websites und Blogs geteilt und kopiert, nicht zuletzt auch von Pegida und einer G+ Community Freunde der AfD.

Der Teaser zum Text:
"Diese Nachricht wird vielen EU-Regierungschefs und Mainstreammedien gar nicht schmecken: Ungarn ... rangiert laut der jährlichen Studie über die sichersten Länder des Erdballs des »Global Peace Index« auf Rang 15." *
Und weiter im Text:
"Neben Tschechien, der Slowakei und Polen gehört Ungarn zu den EU-Ländern, die sich mit aller Kraft gegen die von  der Merkel-Regierung aufgezwungene „Willkommens- und Verteilungskultur“ für „Flüchtlinge“ aus aller Welt zur Wehr setzen." *
Die In­si­nu­a­ti­on des Textes wird bereits mit diesem zwei Zitaten deutlich: Die rigorose Flüchtlingspolitik Ungarns macht das Land sicher, Merkels Politik dagegen bewirkt das Gegenteil.

Quelle: Global Peace Index
Leider versäumt es der Artikel wie auch alle Kopien und zugehörige Tweets die Originalquelle zu verlinken, oder gar Werte gegenüber zu stellen. Aber dies ist noch die kleinste Hürde für einen Faktencheck: Global Peace Index.

Ungarn ist tatsächlich auf dem 15. Platz, aber direkt dahinter Deutschland. Schaut man sich die Werte des Indexes an, so liegt Ungarn bei einem Wert von 1494, Deutschland bei 1500, das sind 0.4% Differenz. Die Nr. 1, Island, liegt übrigens bei 1111, und das Schlusslicht Syrien bei 3814, auf Position 163. Ach ja, Tschechien liegt auf Position 6, die Slowakei auf 26 und Polen auf Position 33.

Somit relativiert sich die insinuierte Aussage des Textes gewaltig, Deutschland und Ungarn sind faktisch gleichauf, was den Index angeht.

Interessant wird es, wenn man die 23 Indikatoren, die den Index ergeben, einzeln anschaut. Darunter sind Indikatioren wie Perceptions of Criminality (wahrgenommene Kriminalität), Homicide (absichtliche Tötungen), oder Incarceration (Gefängnisinsassen je 100'000 Einwohner) - bei diesen, und weiteren, Werten schneidet Ungarn deutlich schlechter ab als Deutschland. Natürlich gibt es auch Indikatioren, bei denen es umgekehrt aussieht, z.B. bei Opfern von Terroranschlägen.

Wie die Autoren dazu kommen, dass die Position Ungarns Victor Orban zu verdanken sei, bleibt deren Geheimnis, aus der angegebenen Quelle geht dies selbstverständlich nicht hervor.

Hier werden auf der Basis einer durchaus seriösen Quelle mit einem objektiven Index, der für alle Länder die gleichen Quellen zur Berechnung der Indikatoren heranzieht, abenteurliche Schlussfolgerungen gezogen und sie so notabene scheinbar legitimiert, somit für das Klientel der eigenen Filterblase missbraucht.

Und alle Indikatioren wie auch den gesamten Index kann man bis zum Jahr 2008 zurück abrufen. Dabei ergibt sich für den Gesamtindex für die Länder Deutschland, Ungarn und die Schweiz folgendes Bild:




Bildquelle: flickr / Seth Dodson (CC BY-NC 2.0)

* Quelle: philosophia-perennis.com/2017/07/17/viktor-orban-ungarn, 18.7.2017


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